Warum jeder “Vintage” Bilder aufnimmt | Fotograf erklärt Trend

 

Grobkörnige “gritty” Fotos liegen voll im Trend. Filmkorn, leichte unschärfe, technische Mängel. Früher noch etwas, das jeder Fotograf vermeiden wollte, heute ist “Vintage” stärker im Trend als je zuvor. Als Streetfotograf mit jahrelanger Erfahrung will ich dir zeigen, warum dieser Trend aktuell so beliebt unter Fotografen ist.

 

5 Erklärungen zum Trend

1. Nostalgie Faktor

Nostalgie ist ein Gefühl, das uns alle irgendwie packt. Es ist dieses „Früher war alles besser“-Gefühl, das uns dazu bringt, uns nach Dingen zu sehnen, die wir vielleicht gar nicht selbst erlebt haben.

Und genau das ist einer der Gründe (und wahrscheinlich auch der offensichtlichste), warum grobkörnige Bilder gerade so im Trend liegen. Sie wecken in uns eine Sehnsucht nach einer Zeit, die inzwischen längst vergangen ist.

Ich bin zwar zu jung, um selbst viel Erfahrung mit Filmkameras gesammelt zu haben, aber viele Fotografen, die damit groß geworden sind, schwärmen von diesem Look.

Damals hatten die Fotos automatisch einen gröberen, raueren Charakter, einfach weil die Technik noch nicht so klinisch präzise war wie heute. Die Filme hatten Körnung, die Farben waren nicht immer perfekt, und manchmal war das Bild auch unscharf. Aber genau das macht den Charme aus. Es fühlt sich echt an, unperfekt und lebendig.

In unserer digitalen Welt, in der alles glatt, scharf und teilweise auch überbearbeitet ist, sehnen wir uns nach etwas Authentischem.

Wie fühlst du dich, nachdem du stundenlang am Handy gescrollt hast? Am Ende fühlst du dich oft leer, irgendwie ausgelaugt, oder?

Das Digitale kann uns manchmal das Leben aussaugen, und genau deshalb suchen wir nach etwas, das uns wieder mit dem Echten verbindet. Grobkörnige Bilder sind da nun wie ein Fenster in die Vergangenheit.

Sie erinnern uns an eine Zeit, in der Fotos nicht perfekt sein mussten, um schön zu sein. Damals gab es keine digitalen Kameras, und die Bilder, die wir heute sehen, sind das einzige, was uns mit dieser Zeit verbindet.

Egal, ob das Foto technisch gut oder schlecht ist – die Körnung, die Unschärfen, die kleinen Fehler geben uns sofort dieses nostalgische Gefühl. Es ist, als ob wir einen Teil dieser Zeit spüren könnten, auch wenn wir sie nie selbst erlebt haben.

Bei Filmkameras war es außerdem normal, dass nicht jedes Bild scharf war oder perfekt belichtet. Langsame Verschlusszeiten, manuelles Fokussieren – all das führte zu Bildern, die voller Charakter waren.

Heute, in einer Welt, in der wir Hunderte von fast identischen Fotos auf unseren Handys haben, alle übersättigt und überscharf, sehnen wir uns vielleicht auch ein bisschen nach diesem Gefühl der Einzigartigkeit.

Früher wurden Fotos außerdem auch in Alben gesammelt, sie waren greifbar, real. Ich erinnere mich noch an viele Fotoalben mit Kinderfotos von mir. Heute verschwinden unsere Bilder im endlosen Cloudspeicher unseres Handys. Ein groberes Bild gibt uns jedoch dieses nostalgische Gefühl. Das Gefühl an die Erinnerungen einer vorherigen Zeit. Und für viele ist das etwas, an das sie sich gerne erinnern und das auf hohen Anklang trifft.

 

2. Preis der Ausrüstung

Filmfotografie ist zwar nicht gerade billig, vor allem wegen der laufenden Kosten für Filmrollen und deren Entwicklung. Aber die Kameras selbst? Die bekommst du meist zu einem Bruchteil des Preises einer modernen Spiegelreflex- oder Systemkamera.

Das macht den Einstieg in die Welt der Vintage-Fotografie relativ einfach. Du musst nicht Tausende von Euro ausgeben, um loszulegen.

Und was, wenn du kein Fan von Filmfotografie bist? Kein Problem. Du kannst Vintage-Objektive auch auf modernen Kameras verwenden.

Mit einem Adapter, der nur 20 bis 30 Euro kostet, passt du alte Objektive an deine digitale Kamera an. Ich selbst nutze zum Beispiel Objektive aus der DDR, die ich von meinen Großeltern geerbt habe.

Diese Objektive haben einen ganz eigenen Look – sie sind technisch nicht perfekt, aber genau das macht sie so besonders. Sie verleihen deinen Bildern Charakter und eine Atmosphäre, die moderne Objektive so nicht erreichen können.

Der Preis für Vintage-Objektive ist ein weiterer großer Vorteil. Du bekommst sie regelmäßig schon für unter 100 Euro. Selbst extrem gute Vintage-Objektive liegen meist unter 1000 Euro.

Vergleiche das mal mit modernen Top-Objektiven wie den G-Master- oder Canon-L-Serien. Die kosten schnell mehrere Tausend Euro.

Klar, sie bieten technische Höchstleistungen: schnellen Autofokus, Bildstabilisierung und eine Schärfe, die kaum zu übertreffen ist. Aber brauchst du das wirklich? Wenn du den Vintage-Look liebst, dann reicht schon ein altes Objektiv, um diesen besonderen Stil zu erreichen.

Für viele Fotografen ist das auch eine emotionale Sache. Vintage-Objektive wecken Erinnerungen an frühere Zeiten der Fotografie. Sie lassen Bilder entstehen, die aussehen, als wären sie vor Jahrzehnten aufgenommen worden. Und das Beste daran? Du musst kein Vermögen ausgeben, um diesen Look zu erreichen.

 

3. Gegenbewegung zu früheren Trends

Du kennst das sicher: Irgendwann wird ein Trend so groß, dass er fast schon langweilig wird. Genau das passiert gerade in der Fotografie.

Über Jahre hinweg war das Ziel, alles perfekt zu machen – scharfe Bilder, klare Farben, keine Fehler. Der rasante Aufstieg der digitalen Fotografie hat uns das ermöglicht, und eine Zeit lang war das auch genau das, was alle wollten.

Aber jetzt? Jetzt spüren wir, dass diese Perfektion auch ein wenig seelenlos wirkt. Vor allem Kameras von Sony stehen in der Kritik, weil ihre Bilder zu clean, zu klinisch sind. Es fehlt das Besondere, das Einzigartige.

Und genau das führt auch irgendwann zu einer Gegenbewegung. Wir sehnen uns nach Bildern, die nicht perfekt sind, die Charakter haben. Grobkörnige Fotos, unscharfe Stellen, Lens Flares – all diese „Fehler“ machen ein Bild lebendig. Sie erzählen eine Geschichte, die über die technische Qualität hinausgeht.

In einer Welt, in der jeder weiß, wie man „perfekte“ Fotos macht, wird das Echte, das Unperfekte, zum neuen Schatz.

Schau dir mal deinen Social-Media-Feed an. Was siehst du? Oft sind es die gleichen Motive, die gleichen Bearbeitungen, die gleichen Farbfilter. Alles wirkt steril, fast schon langweilig.

Das liegt daran, dass viele Influencer und Marken eine Art Formel gefunden haben, die funktioniert: großartige Hintergründe, perfekt inszenierte Outfits, immer die gleichen Locations.

Es ist, als ob jeder die gleiche Anleitung befolgt. Dazu gibt es ja auch unzählige Videos, die erklären, wie man “den Algorithmus bespielt”. Das Ergebnis? Ein Feed, der zwar schön aussieht, aber keine Seele hat.

Grobe, unreine Fotos brechen diese Monotonie. Sie fallen auf, weil sie anders sind. Sie lösen etwas in uns aus, weil sie echtes Leben einfangen – nicht nur eine perfekt inszenierte Illusion. Und das ist es, was wir gerade brauchen: Bilder, die uns berühren, die uns etwas fühlen lassen.

Dieser Trend ist übrigens nicht nur auf die Fotografie beschränkt. Schau dir zum Beispiel den American Football an. Über Jahre hinweg gab es einen klaren Trend zum Passspiel. Die Teams haben den Ball geworfen, anstatt damit zu laufen.

Aber jetzt? Jetzt gibt es eine Gegenbewegung. Teams laufen wieder mehr, weil sie gemerkt haben, dass das eine Schwachstelle in der Verteidigung ausnutzt. Es ist eine Reaktion auf den vorherigen Trend, genau wie in der Fotografie.

Das zeigt: Trends entwickeln sich weiter, und manchmal müssen wir einen Schritt zurückgehen, um voranzukommen. Grobkörnige Bilder sind nicht nur ein Hype – sie sind eine Antwort und Gegenbewegung auf die Fotos des letzten Jahrzehntes.

 

4. Fotografie ist Kunst… Und Kunst ist selten Mainstream

Fotografie ist Kunst. Und Kunst ist selten Mainstream. Es ist auch eine gewisse künstlerische Rebellion, um Emotionen und um die Rückbesinnung auf das Wesentliche in einer Welt, die von technischer Perfektion dominiert wird.

Heutzutage ist die Technik in der Fotografie auf einem Niveau, das vor einigen Jahren noch unvorstellbar war. Objektive sind ultrascharf, Sensoren haben eine unglaubliche Auflösung, und die ISO-Leistung ermöglicht es uns, selbst in dunkelsten Situationen noch gestochen scharfe Bilder zu machen.

Selbst Smartphones konkurrieren inzwischen hauptsächlich über Kameras, indem sie immer bessere Bildqualität versprechen.

Immer mehr Fotografen – ob Profis oder Enthusiasten – sehnen sich danach, diese Perfektion zu durchbrechen. Sie wollen Bilder schaffen, die nicht nur ein Abbild der Realität sind, sondern Emotionen und Geschichten erzählen.

Grobkörnige, unscharfe und raue Bilder sind eine Möglichkeit, genau das zu erreichen. Sie wirken authentisch, roh und ehrlich. Sie fühlen sich lebendig an, als ob sie direkt aus dem Moment heraus entstanden sind, ohne Filter oder Nachbearbeitung.

Aber lass mich dir eines sagen: Diese Art von Fotografie ist kein Zufall. Es ist kein einfaches „Ich drücke auf den Auslöser und hoffe auf das Beste“.

Nein, um grobkörnige Bilder zu schaffen, die trotzdem ästhetisch ansprechend sind, brauchst du ein tiefes Verständnis für die Regeln der Fotografie. Du musst wissen, wie man Licht, Bildaufbau und Bewegung einsetzt, um gezielt gegen diese Regeln zu verstoßen. Es ist ein Tanz auf der Grenze zwischen Chaos und Schönheit. Und genau das macht es so herausfordernd – und gleichzeitig so faszinierend.

Ein weiterer Faktor, der diesen Trend vorantreibt, ist die zunehmende Präsenz von künstlicher Intelligenz in der Fotografie. KI kann Bilder in Sekundenschnelle optimieren, Details herausarbeiten und sogar fehlende Elemente ergänzen. Oder auch einfach von Grund auf ein neues, nahezu perfektes Foto erstellen.

Doch je realistischer und perfekter diese Bilder werden, desto mehr sehnen wir uns nach etwas anderem. Denn unser Gehirn passt sich sehr schnell an die Veränderung an. Und wenn ein Foto so perfekt ist, dass ich nicht mehr unterscheiden kann ob es echt oder KI ist? Dann neige ich dazu, das grobkörnige Foto zu mögen, hinter dem noch mehr künstlerische Ausdruck und eine gewisse Realität steht. Und genau das ist ein weiterer Auslöser für diesen Trend.

 

5. Grobe Fotos sind… ehrlicher?

Ich habe nach einem guten Wort gesucht für das was ich meine. Auf Englisch würde man “relatable” sagen. So richtig gut 1:1 übersetzen kann man das nicht. Aber grobe Fotos fühlen sich einfach etwas ehrlicher an.

Du kennst sicher diese Bilder von Influencern, die ein perfektes Leben zeigen: um 5 Uhr aufgestanden, eine Stunde Morgensport, die private Villa, die perfekte Beziehung, der durchtrainierte Körper, das scheinbar sorgenfreie Leben.

Aber mal ehrlich, wie viele Menschen leben wirklich so? Für die meisten von uns ist das nicht die Realität. Und mit der Zeit merken wir immer mehr, dass vieles davon inszeniert ist.

Es ist eine hübsche Fassade, die aber meist wenig mit dem echten Leben zu tun hat. Klar, es gibt Ausnahmen und einige Leute leben vielleicht wirklich so, aber der Normalfall ist wohl doch eher anders.

In einer Zeit, in der vieles schwierig erscheint – egal, ob es um Arbeit, Beziehungen oder die Welt im Allgemeinen geht – sehnen wir uns wahrscheinlich nach etwas, das uns nahbar ist.

Mein Theorie ist: Wir wollen uns verbunden fühlen, nicht abgehängt von einer scheinbar perfekten Welt, die wir nie erreichen können. Wenn wir also Bilder sehen, die superglatt und poliert sind, fühlen sie sich oft falsch an. Sie wirken, als würden sie versuchen, uns etwas vorzumachen. Und das wollen wir nicht mehr.

Deshalb finde ich grobkörnige Fotos so faszinierend. Sie versuchen nicht, perfekt zu sein. Sie zeigen die Welt, wie sie ist – mit all ihren Unvollkommenheiten. Sie haben Ecken und Kanten, sie sind rau und manchmal sogar ein bisschen chaotisch.

Aber genau das macht sie ehrlich. Sie verstecken sich nicht hinter einer perfekten Fassade, sondern zeigen, was wirklich da ist.

Ich merke das selbst an mir: Ich folge kaum noch Menschen, die ein perfektes Leben präsentieren. Stattdessen interessiere ich mich für Geschichten, die echte Probleme zeigen – und wie Menschen damit umgehen. Das fühlt sich nicht nur authentischer an, sondern gibt mir auch das Gefühl, etwas daraus lernen zu können.

Und genau das ist es, was grobe Fotos ausmacht: Sie erzählen Geschichten, die uns berühren, weil sie echt sind. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir klinisch saubere Bilder immer mehr mit „Fake“ verbinden.

Sie wirken zu glatt, zu perfekt – und das weckt Misstrauen. Ein grobkörniges Foto dagegen fühlt sich ehrlicher an. Es versucht sich nicht zu verstecken und geht offen mit seinen Fehlern um.

Das ist ein Charakterzug, den ich bei Menschen mag – und offenbar auch bei Fotos.

 

 
Timo Nausch